Übergriff von fundamentalistischen Christ*innen auf antirassistische Aktion von Künstler*innen in Winterthur

08.06.2021 - Lilli Rose Wiesmann

Es ist Samstag, 5. Juni 2021, 15 Uhr am oberen Graben in Winterthur. Hier steht schon das zweite Wochenende die Blackbox. Eine mit langem Vorlauf geplante politische und künstlerische Aktion, mit entsprechender Bewilligung und Covid-Schutzkonzept. Die Blackbox ist ein performativer Raum für BIPOC (Black, Indigenous and People of Color) und Künstler*innen. Ein Raum mitten in der Stadt, der verborgene Schwarze Geschichten sichtbar macht und verschiedene Materialien zu Sklaverei/en, Kolonialismus, Migration, Rassismus mit der Öffentlichkeit teilt.

Plötzlich kreuzen einige Personen auf und beginnen auf dem Platz direkt neben der Blackbox, Materialien für eine Kundgebung aufzubauen. Schnell werden es immer mehr. Als sie schliesslich ihre Transparente entrollen, auf welchen beispielsweise «Ja zum Kind» und «Lass dein Kind leben» steht, wird deutlich, um was für eine Gruppe es sich handelt.

Die Weltanschauung der Abtreibungsgegner*innen ist menschenverachtend

«Ja zum Kind» ist eine dieser christlich-fundamentalistischen Organisationen, welche sich momentan stark ausbreiten und versuchen, ihre Ideologie im öffentlichen Raum zu verbreiten. Sie sind gegen das Recht auf Abtreibung, aber auch gegen Sexualkunde, offen homophob und vertreten ein unterdrückerisches, patriarchales Bild der Familie. Ein Bild, das in vielerlei Hinsicht diskriminierend ist. Denn christlich-fundamentalistische Ideologien setzen eine antifeministische, rassistische, sexistische und weisse kolonialistische Sicht voraus. Dadurch stellen sie rechtliche Prinzipien der Selbstbestimmung in Frage. «Ja zum Kind» und der «Marsch fürs Läbe» haben ein klares Ziel: die Einschränkung der Grundrechte von Schwangeren. Selbstbestimmt über den eigenen Körper zu entscheiden, ob mensch schwanger werden will oder eine Schwangerschaft abbrechen möchte, ist ein Recht, das hart erkämpft wurde. Eine der Vorkämpfer*innen dieses Rechts in der Schweiz ist die Schwarze Politikerin Tilo Frey. Dass ein Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen vor allem eine ideologische Frage ist und niemals wirklich im Sinne der Schwangeren handelt, hat sie schon 1975 im Nationalrat untermauert.

Übergriffe der Fundamentalist*innen und Gegenproteste

Nicht nur, dass die Abtreibungsgegner*innen mit ihrer antifeministischen und rassistischen Ideologie, die sie mit grossen Transparenten und über Lautsprecher lautstark zum Ausdruck brachten, einen direkten inhaltlichen Angriff auf die Blackbox darstellten. Auch verhielten sie sich - zusätzlich zu ihrer klaren, zahlenmässigen Überlegenheit - provozierend und übergriffig. Sie überschritten physisch und psychisch Grenzen: Trotz expliziter Zurückweisung von Gesprächen von Seiten der Menschen der Blackbox suchten sie dieses immer wieder. Dabei kamen sie unangenehm nahe und trugen zu alledem oft keine Schutzmasken. Auch drangen sie mehrfach und trotz klarer Kommunikation von Seiten des Blackbox-Teams in den Raum der Blackbox ein. Eine Fundamentalistin* erdreistete sich sogar, ein Plakat mit der Aufschrift «My Body my Choice» von der Blackbox abzureissen. Die Personen rund um die Blackbox wurden einer gefährlichen und unzumutbaren Situation ausgesetzt und mussten Freund*innen und Bekannte zu Hilfe rufen, um sich in dieser Situation selbst besser schützen zu können.

Umso erfreulicher war es deshalb, dass dutzende Zivilist*innen sich zu einem spontanen Protest gegen die Fundamentalist*innen versammelten. Im Zuge dessen wurden verschiedene Plakate aufgehängt und einzelne Redebeiträge zur Wichtigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen gehalten. Drei Passant*innen beteiligten sich mit einem Transparent mit der Aufschrift: «Hätte Maria abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben».

Kritik und Fragen an Stadt und Stadtpolizei

Dass die christlichen Fundamentalist*innen ihre Kundgebung direkt neben der Blackbox abhalten konnten, ist politisch problematisch und inakzeptabel. Die Menschen rund um die Blackbox wurden einer Situation ausgesetzt, die ihre Sicherheit gefährdete. Der Stadtpolizei muss bekannt sein, wie aggressiv sich christlich-fundamentalistische Gruppen gegenüber Menschen verhalten, die ihre Ansichten kritisieren. Die beiden Plätze am oberen Graben eignen sich in keinster Weise, um parallel zwei Veranstaltungen abzuhalten, deren politische Positionen diametral entgegengesetzt sind.

Wieso also hat die Polizei nicht interveniert? Wieso wurden die Organisator*innen der Blackbox nicht informiert? Und vor allem: Wieso hat die Stadtpolizei (Verwaltungspolizei) den Abtreibungsgegner*innen überhaupt eine Bewilligung an diesem Platz erteilt? Die Zusammenstösse waren vorprogrammiert und wurden von Seiten der Stadtpolizei quasi forciert. Eine solche Praxis ist verantwortungslos und inakzeptabel! Letztlich bleibt einmal mehr der Eindruck, dass die Stadtpolizei Winterthur keinerlei politisches Bewusstsein in diesen Fragen hat, bzw. falls sie es doch hat, sie es zum Nachteil antirassistischer Veranstaltungen und Aktionen einsetzt. Warum wurden die Menschen rund um die Blackbox in dieser Weise gefährdet? Wir fordern Antworten und eine Aufklärung dieser Vorgänge!

Der Widerstand geht weiter!

Ende Mai wurde bekannt, dass die Fundis vom “Marsch fürs Läbe” die Erlaubnis für eine Demonstration am 8. September in Zürich erhalten haben. Stehen wir auch dort geschlossen für die Rechte von Frauen* und LGBTQIA+ - Personen ein. Am Arsch fürs Läbe! Ja zum chind?! Nüt im Grind!

Unterzeichnende Organisationen:

Das Blackbox-Team
Black Lives Matter/antirassistisches Bündnis Winterthur
Juso Winterthur
Queerfeministisches Bündnis Winterthur